Chicago – Perle am Michigan-Lake
Chicago ist eine überaus schöne und angenehme Stadt. Von der ehemaligen Gangster-metropole aus der Zeit vo
n Al Capone ist nichts mehr zu spüren. Der Pulverdampf hat sich weitgehend verzogen, und in der Stadt, wo der Wolkenkratzer erfunden worden ist, kann man heute problemlos durch die Gassen flanieren, in den Strassencafés sitzen und dem Völker-gemisch zuschau
en, das an einem vorbeizieht. Auf den Punkt gebracht: Chicago ist zu einer echten Perle geworden, was natürlich auch mit seiner schönen Lage am Michigan-Lake zusammenhängt. Zwar reichen drei Tage bei weitem nicht aus, um die Vielfalt dieser Stadt aufzunehmen, aber der erste (und bleibende) Eindruck ist definitiv dieser: Chicago ist eine Stadt zum Wiederkommen.
Bürokratie am Zoll
Der Mann macht mir Sorgen. Das bedächtig lange Kratzen am Hinterkopf und die vielen Falten auf der Stirn lassen nichts Gutes ahnen. Ich stehe im Zollgebäude in Chicago und möchte eigentlich nichts anderes, als mein Posttöffli wiederhaben. Meine Lucy, die ich Tage zuvor in einer speziellen Holzkiste über den Teich nach Chicago verfrachten liess. – Aber eben, so einfach geht das im Lande der Extrem-Bürokratie nicht. Das Problem ist: Wie soll man etwas deklarieren, wofür es kein offizielles Formular gibt? Während es auf seiner Stirn die Falten sind, sind es bei mir dicke Schweisstropfen. Gopferteckel – sollten die Kollegen in der Schweiz am Ende doch noch Recht behalten mit der Aussage, dass sich ein Schweizer Posttöffli nie nach Amerika einführen lasse?
Ich versuche, dem Mann den Sachverhalt irgendwie nahezubringen, aber es will nicht klappen, die tiefen Runzeln bleiben. Erst der vierte Versuch und die Erklärung, dass es sich hier um ein Fortbewegungsvehikel mit 2-Takt-Motor handelt, ändert die Situation. Und zwar radikal! «2-Stroke-Engine», fragt er zurück, «wie bei diesen fahrbaren Rasenmähern?». Bingo! Die Stirn ist plötzlich faltenfrei (wie nach einem Botox-Eingriff), das Grinsen breit. Und: es bleibt. Einen kurzen Moment lang wühlt der Mann in einer Schublade, schiebt mir dann ein Formular rüber, und nur zehn Minuten und 30 Dollar später kann ich mein Töffli in einer grossen Lagerhalle abholen. Offiziell und ganz legal in den USA deklariert als … fahrender Motor-Rasenmäher! Yepee – das Abenteuer kann beginnen!
Unspektakulärer Start
Die Route 66 beginnt enorm unspektakulär: ein simples braunes Schild, hoch oben an einem Laternenpfahl in einer Seitengasse von Chicago, ist alles, was darauf hinweist, dass hier die berühmteste Strasse Amerikas beginnt. Also, etwas mehr hätte ich ja schon erwartet! Gerade in einem Land, wo das Wort „action“ bereits zum Kinder-Wortschatz gehört. Eine zünftige Rocker-Beiz zum Beispiel. Oder eine rustikale Harley-Davidson-Werkstatt. Mindestens aber einen Souvenir-Shop, wo man sich als echter Route-66-Biker mit den notwendigen Gimmicks wie Fransenjacken und anderen Rocker-Utensilien eindecken kann. Aber nichts dergleichen: ein Brotladen, ein Bistro, eine Baustelle – fertig! Fast will mir scheinen, als sei es den Leuten hier ein wenig peinlich, dass sich auf ihrem Stadtgebiet der Startpunkt der berühmtesten Strasse Nordamerikas befindet.
Anyway – weil’s nun mal nicht zu ändern ist, schwinge ich mich auf meinen Rasenmäher und fädle mich ein in den Stossverkehr von Chicago. Durch lange Strassenschluchten und ein paar triste Vororte geht’s westwärts – hinaus ins ländlich-grüne Illinois. Freude herrscht! Das Töffli läuft, und spontan entfährt mir ein lautes „Yee…haa!“. Doch zu früh gefreut. Ein dummer Abbiegefehler, und unversehens finde ich mich auf einer ausgewachsenen Interstate wieder – einer mehrspurigen Autobahn, und das mitten in der rush hour. Tammisiech! Wie wildgewordene Bienen fräsen die Autos an mir vorbei, und natürlich dauert es nicht lange, bis hinter mir der typische Sound einer amerikanischen Polizeisirene zu hören ist. Das fängt ja gut an: schon am ersten Tag Lämpe mit der Polizei. Gestenreich versuche ich den Sheriffs zu erklären, warum ich mit diesem komischen gelben Moped auf ‚ihrer’ Interstate herumkurve. Nach längerem Hin und Her lassen sie mich schliesslich ziehen – ohne Busse und (viel wichtiger!) ohne meine Lucy zu konfiszieren. Dafür mit der abschätzigen Bemerkung, dass ich es mit diesem Ding mit Sicherheit niemals (never ever!) bis nach Los Angeles schaffen werde… .
Lucy fängt an zu bocken
Und fast scheint’s, als würden die Kerle Recht bekommen, denn schon am nächsten Tag fängt Lucy an zu bocken. Trotz gutem Zureden macht sie einen dicken Hals und verweigert schiesslich ihren Dienst völlig. Rien ne vas plus! Ich lasse sie ein wenig abkühlen, bringe sie kurz wieder auf Touren – doch nach einigen hundert Metern die gleiche Situation. Nichts geht mehr. Verdammt! Erst der zweite Tag und bereits Lämpe mit der Dame! Das kann ja heiter werden. Und weil meine rudimentären mechanischen Kenntnisse zu keiner Lösung führen, müssen Fachleute her. Die Jungs einer Harley-Davidson-Werkstatt (ausgerechnet!) nehmen sich der Sache an und entscheiden schliesslich – nach hitziger Diskussion und mit zwei zu einer Stimme! -, dass das Problem an der Zündbox liegen müsse. Oder mit anderen Worten: explizit an jenem Ding, das normalerweise (???) nie kaputt geht, und das ich – logisch! – deshalb auch nicht mit dabei habe. Da hilft auch ausgedehntes Fluchen nichts: das Teil muss her! Und zwar per FedEx aus der Schweiz. Was gleichbedeutend ist mit Pause … und dies nach erst 100 gefahrenen Kilometern. Drei Tage dauert’s so, bis die Fahrt wieder weitergehen kann. Und nur einen mehr, um festzustellen, dass es doch nicht an der Zündbox gelegen hat… ! Im Pilgerstil – eine halbe Meile fahren, anhalten, Motor abkühlen lassen, Gegend anschauen, fluchen – hangle ich mich fortan über die Strecke. Immer in Sichtweite der Interstate 55, auf der der Hauptverkehr von Chicago nach St.Louis rollt. Das Positive daran: Man hat genügend Zeit, sich ein wenig mit der Vergangenheit neben der Strasse zu beschäftigen. Mit den typischen alten Häusern, den alten Tanksäulen und den vielen Schrottplätzen, wo einzigartige Oldtimer ohne Zukunft vor sich hinrosten… Relikte aus einer Zeit, als die Route 66 noch intakt und Lebensader für unzählige Dörfer und Städte war.
Bill Shea’s Tankstelle
Ein Relikt aus vergangenen Zeiten scheint auch der Besitzer einer alten Tankstelle zu sein, den ich wenig später in Springfield kennenlerne. Bill Shea heisst der Mann. Herr über eines der schönsten Road-Museen an der Strecke. Er war zeitlebens Tankwart an der Route 66 und ist – trotz seiner mehr als 80 Jahre – geistig noch voll auf der Höhe. Ein wandelndes Lexikon sozusagen. Nach zwei Stunden kenne ich jedenfalls nicht nur alle relevanten Dinge der Route 66, sondern auch viele Anekdoten aus seinem langen Leben. Das Wichtigste weiss allerdings auch er nicht: nämlich, woran meine Lucy krankt. Die nächsten beiden Tage verbringe ich deshalb mehrheitlich unter, statt auf meinem Posttöffli, und frage mich des öftern, ob es wirklich so eine gute Idee war, das Route-66-Abenteuer ausgerechnet mit einem solchen Vehikel in Angriff zu nehmen.
Dwight can do it!
Mit Hängen und Würgen und Schrauben und Fluchen schaffen wir es schliesslich bis St. Louis, wo sich eine neue Theorie für das aufmüpfige Verhalten meiner Gefährtin findet. Offenbar liegt Lucy’s Problem in den Gedärmen. Oder mit anderen Worten – am Auspuff. Ein Muffler-Man muss her. Jemand, der sich mit Auspüffen auskennt. Dwight ist so ein Mann. Mit Trennscheibe und Schweissgerät rückt er Lucy’s Verstopfung zu Leibe und entfernt ihr kurzerhand ein Stück des inwändigen Auspuffrohrs. Und siehe da: die Lady erledigt ihren Dienst fortan ohne Macken. Aber nicht nur das: dank des martialischen Eingriffs hat sie nun auch soundmässig deutlich an Power gewonnen. Ein nicht unerheblicher Faktor, wenn man auf der Route 66 ernst genommen werden will. Zwar reicht’s noch nicht ganz zum typischen röhrenden Harley-Davidson-Sound, aber erinnert mich irgendwie an früher, als wir mit Karton und Wäscheklammern an unseren Velos das Knattern der Töfflis simulierten. Der satte (!) Motoren-Sound war eben schon damals das einzig Wahre… .